Heute, am 18. Januar 2011, steht auf dem Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Union (Ecofin-Rat) der Jahreswachstumsbericht der Europäischen Kommission von letzter Woche auf der Agenda.
Dieser Annual Growth Survey ist der Startschuss für das erste Europäische Semester - und damit der erste Schritt zu einer verbindlicheren wirtschaftspolitischen Koordinierung in EU und Eurozone.
Neben einem allgemeinen Ausblick auf die wirtschaftspolitischen Herausforderungen des kommenden Jahres legt der Jahreswachstumsbericht 10 Aktionsfelder für die wirtschaftliche Erholung der Europäischen Union fest.
Diese sind in drei Schwerpunktbereiche untergliedert:
1. Makroökonomische Stabilität durch Haushaltskonsolidierung als Wachstumsvoraussetzung:
Dieser erste Schwerpunktbereich umfasst drei Aktionsfelder, und zwar:
(1) Haushaltskonsolidierung in allen EU-Mitgliedstaaten,
(2) die Stabilisierung des Finanzsektors
und
(3) die Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte. In diesem Zusammenhang empfiehlt die Kommission eine Korrektur hoher Leistungsbilanzdefizite einzelner Mitgliedstaaten über die Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit.
Zu hohe Leistungsbilanzüberschüsse sollen hingegen durch die Liberalisierung des Dienstleistungssektors und bessere Investitionsbedingungen gefördert werden - unter Umständen auch durch eine Stärkung der Binnennachfrage.
2. Strukturreformen zur Mobilisierung der Arbeitsmärkte und für mehr Beschäftigung:
Dieser zweite Schwerpunktbereich umfasst vier Aktionsfelder. Dies sind:
(1) Arbeitsmarktreformen zur Förderung der Beschäftigung - etwa durch steuerliche Entlastungen oder Förderung der Teilnahme von Zweitverdienern am Arbeitsleben,
(2) Rentenreformen, die einerseits die Eigenvorsorge fördern und andererseits das Erwerbspersonenpotenzial (d.h. alle Erwerbstätigen und Arbeitslosen und die stille Reserve) ausbauen - beispielsweise über den Abbau von Vorruhestandsregelungen,
(3) Arbeitsmarktreformen, die die Wiedereingliederung von Arbeitslosen fördern
und
(4) ein ausgewogenes Verhältnis von Sicherheit und Flexibilität - etwa im Hinblick auf den allgemeinen Kündigungsschutz und den Schutz von Beschäftigten in unbefristeten Verträgen.
3. Maßnahmen zur Förderung des Wachstums.
Dieser dritte Schwerpunktbereich umfasst drei Aktionsfelder, und zwar:
(1) die volle Ausschöpfung des Potenzials des europäischen Binnenmarkts für Wachstumseffekte - etwa über den Ausbau grenzüberschreitender Dienstleistungen,
(2) die Stärkung der Rolle privater Kapitalgeber und die grenzübergreifende Aktivität von Wagniskapital zur Finanzierung des Wachstums
und
(3) die Sicherstellung einer kostengünstigen Energieversorgung - vor allem über mehr Wettbewerb im Binnenmarkt.
Innerhalb dieses breiten Maßnahmenkataloges gibt es einige interessante Elemente, die eine nähere Beachtung verdienen:.
- Derzeit überschreiten 14 EU-Länder den erlaubten Schuldenstand von 60% des BIP .12 davon sind Euroländer. Positiv zu werten ist, dass der Jahreswachstumsbericht die derzeitigen Konsolidierungsziele für Staaten jenseits der Schuldengrenze als nicht ausreichend bezeichnet. Derzeit ist eine jährliche Rückführung des Defizits von 0,5% p.a. vorgeschrieben, bis der strukturelle Haushaltssaldo ein vorab festgelegtes fiskalisches Mittelfristziel erreicht hat. Je nach Verschuldungsgrad des Landes liegt dieses zwischen 1% und -1% des BIP. Nicht nur Ausgabenkürzungen, sondern auch erhöhte Steuereinnahmen werden als Mittel zur Konsolidierung der Staatsfinanzen vorgeschlagen – wobei die Erweiterung der Steuerbasis Vorrang vor Erhöhungen der Steuersätze haben soll.
- Weiterhin schlägt das Dokument innovative Instrumente vor - wie etwa projektbezogene Euro-Anleihen als Teil des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens, um Projekte von grenzüberschreitender Bedeutung zu finanzieren. Projekte wie Eurotunnel und Fehmarnbeltquerung zeigen, dass die zwischenstaatliche Finanzierung grenzüberschreitender Infrastrukturprojekte entscheidende Wachstumsimpulse für Regionen setzen kann.
Die große Bandbreite der Ziele kann auf den ersten Blick durchaus beliebig wirken.
Dieser Eindruck trügt jedoch, denn der Jahreswachstumsbericht operationalisiert die Ziele der Wachstumsagenda Europa 2020 und liegt mit den aktuellen Grundzügen der Wirtschaftspolitik (Ratsbeschluss vom 13. Juli 2010) auf Linie.
Zwar setzen die Grundzüge zusätzlich noch Schwerpunkte in den Feldern Forschung und Entwicklung sowie Ressourceneffizienz – dies sind jedoch langfristige Ziele, die nicht zwangsläufig über eine mittelfristige Koordinierung abgedeckt werden müssen.
Wie geht es weiter?
- In den kommenden Wochen werden Europäisches Parlament und Ministerrat in unterschiedlichen Zusammensetzungen die Vorschläge der Kommission beraten. Vor allem der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (Ecofin) aber auch die Ratszusammensetzungen für Energie- und Arbeitsmarktpolitik werden zu dem Bericht tagen. Insbesondere der 15. und 16. Februar dürfte spannend werden, wenn der Ecofin die makroökonomischen und fiskalischen Grundzüge diskutiert.
- Am 25. und 26. März wird der Europäische Rat (Rat der Staats- und Regierungschefs) die wirtschaftspolitischen Prioritäten für alle Mitgliedstaaten beschließen.
- Aufbauend auf diesen Ratsbeschlüssen reichen die Mitgliedstaaten dann ihre mittelfristige Haushaltsplanung über die Stabilitäts- und Konvergenzprogramme und ihre wirtschaftspolitische Planung über sogenannte Nationalen Reformprogramme ein. Die Kommission bewertet die Pläne der Länder und entwirft dann ein Votum für den Ministerrat.
- Im Juni 2011 und Juli 2011 geben Europäischer Rat und Ministerrat länderspezifische Politikempfehlungen zur allgemeinen Wirtschaftspolitik und zur Haushaltspolitik ab. Die Kommissionsberichte des Folgejahres bewerten die Umsetzung dieser Empfehlungen.
Einen genauen Überblick über diesen komplexen Prozess und alle beteiligten Institutionen verschafft unsere
Das europäische Semester ist das erste Element einer umfassenden Reform der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Koordinierung in EU und Eurozone:
Das Gesetzespaket zur Europäischen Wirtschaftsregierung („Economic Governance Package“) aus letztem September schlägt neben dem Europäischen Semester weitere Schritte vor – etwa die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, die makroökonomische Koordinierung über einen Scoreboard-Ansatz und eine Angleichung nationaler Haushaltsregeln über eine Europäische Richtlinie.
So ergibt sich ein Gesamtbild, das Mut macht, dass die Wachstumsagenda Europa 2020 über eine wirksamere ex ante Koordinierung der meisten Bereiche der Wirtschaftspolitik die Schatten ihres blutleeren Vorgängers, der Lissabon-Agenda, bald hinter sich lassen wird.
Trotz dieser Bedeutung haben Jahreswachstumsbericht und Europäisches Semester in der öffentlichen Debatte bisher kaum Aufmerksamkeit erfahren.
Zu stark dominieren Spekulationen über eine mögliche Ausweitung und Umwidmung des Euro-Rettungsschirms und eine mögliche Rettung Portugals die derzeitige Berichterstattung.
Nachvollziehbar ist das angesichts der Dramatik der Ereignisse durchaus. Spätestens, wenn im Juni 2011 und Juli 2011 länderspezifische Empfehlungen des Ministerrats die nationale Politik beeinflussen werden, könnte sich das jedoch ändern.
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